Akteur-Review von Tobias Schmidt / “Research and Residents – (M)ein Tag im UdN-Studio”

 (M)ein Tag im UdN-Studio

StudioFenster_web

7:45

Noch bevor mein Wecker klingelt, wecken mich die Kinder auf dem Weg zur Schule, die gegenüber liegt. Für mich beginnt ein neuer Tag in der Universität der Nachbarschaften, der UdN. Seit Anfang Januar bin ich zu Gast in der Studio-Wohnung, um Daten für ein Forschungsprojekt zu Stadtentwicklungskonflikten in Wilhelmsburg zu erheben.

8:30

Als ich heute meinen Rechner hochfahre, um mich auf die Interviews vorzubereiten, die ich morgen führen werde, geht auch das Eichhörnchen draußen wieder an die Arbeit. Es bewohnt den Garten der UdN. Seit gestern schon sucht es unter den Schneeresten grabend wohl eine Nuss vom letzten Herbst. (Vielleicht hat sie ja einer der drei Eichelhäher geklaut, die oft im Garten zu Gast sind.)

10:45

Seit einer Stunde dringen Stimmen aus dem Nebenraum. Dort rauchen nicht nur die Köpfe, sondern auch Bohrmaschinen. Studierende und Dozenten aus unterschiedlichen Nationen arbeiten an einem gemeinsamen Projekt: dem Hotel Wilhelmsburg, dem letzen großen Wohnexperiment zum Abschluss der Universität der Nachbarschaften in diesem Jahr.

Mit Workshops und Seminaren wie diesem ist die UdN immer wieder Einflugschneise für viele Austauschstudierende, die zum Teil noch nie in Deutschland waren. Doch auch viele Studierende und interessierte Menschen aus Hamburg bringt die UdN nach Wilhelmsburg. Ob beabsichtigt oder nicht: Zu den Nebeneffekten gehört sicherlich, dass das Projekt so nicht nur dem von der Internationalen Bauausstellung (IBA) propagierten „Sprung über die Elbe“ indirekt zu Gute kommt. Indem sie mit vielen neugierigen Menschen auch potenzielle neue Mieter in diesen Stadtteil lockt, wird die UdN in gewisser Weise auch Teil einer möglichen Gentrifizierungswelle, wie sie viele der Nachbarn in Zuge der IBA befürchten.

11:00

Während die Studierenden nebenan an den Konstruktionsplänen des Hotel-Projekts tüfteln,

überarbeite ich das Gliederungsgerüst eines Papers über Identität und Innovation in Wilhelmsburg, das ich auf einer Tagung in Irland einreichen möchte. Im Sprachgewirr aus dem Nebenraum erkenne ich Englisch, Kroatisch, Deutsch und Italienisch. Wie jeden Tag in der UdN, herrscht auch während dieser Workshopwoche ein spannendes, internationales Klima.

12:10

International heißt auf dem Wilhelmsburger Wochenmarkt zum Beispiel, dass mich die friesische Marktfrau heute für einen Norddeutschen hält, obwohl ich aus Bayern komme – und mir deshalb auch keinen bitteren Endiviensalat verkaufen will, weil der angeblich nur Rheinländern schmecke.

Am Stand nebenan feilschen unterdessen zwei Männer mit slawischem Akzent mit einem türkischstämmigen Mann um den Preis eines Paares Hausschuhe aus Fernost.

13:00

Der Künstler, der den Workshop leitet, beschaffte einst schon die Küchenutensilien für die Studio-Wohnung durch eine Aktion: Studierende klingelten bei den Nachbarn. Im Austausch gegen Tomatenpflänzchen baten sie um Besteck und Geschirr.

Die alte Turnhalle nebenan wurde abgerissen. Ihr Sportparkett liegt als Bodenbelag in der Studio-Wohnung und bedeckt statt einer Arbeitsplatte auch die Küchenarmaturen. Auf Teilen dieser Turnhalle, das es längst nicht mehr gibt, schneide ich heute Salat. So macht die neu genutzte Hardware des Stadtteils von gestern es möglich, dass ich mir heute in der UdN über die Nachbarschaften im Wilhelmsburg von morgen Gedanken mache. Denn die Angehörigen der UdN beobachten und „studieren“ wie ich diese Nachbarschaften. Doch die beobachten ebenso uns, wie mir scheint: Die Fenster meiner Erdgeschoß-Wohnung gehen direkt auf den Gehweg hinaus. Ich koche, esse und arbeite vis-a-vis mit jedem Passanten.

13:30

Kaum ist die Schule zu Ende, stürmen auch heute spielende Kinder den Garten der UdN. Indem sie Baumhäuser und Hängekonstruktionen erklettern, eignen sie sich die Überreste des „Baumhaus-Workshops“ vom letzten Sommer an. Dieser ungeplante Klettergarten ist längst ihr eigenes Reich. Zwischen Schule und Mittagessen genießen sie dort die große Freiheit unter Baumkronen. Und kleben mit ihren Nasen oft an meinen Fenstern. Die vielen kleinen Augenpaare, die mir zusehen, während ich diese Zeilen schreibe – machen sie aus meiner Research in Residence nicht zugleich eine Research der Residents, mit der sie Architekten, Planer oder Wissenschaftler wie mich als Neuankömmlinge in ihrer Nachbarschaft erkunden?

15:20

Was mögen sie zum Beispiel daraus für Schlüsse ziehen: Während einer Performance der Workshopgäste duscht gerade einer der Studenten halbnackt auf einem Baugerüst im verschneiten, frostig kalten Garten. Sein dampfendes Duschwasser gießen ihm die anderen Workshopteilnehmer aus vielen kleinen Porzellankannen über den Kopf. Mehrere Studierende filmen diese skurrile Szenerie. Mein Blick wandert nachdenklich zu den Fenstern der Häuserblocks gegenüber, meine Gedanken schweifen zu den Bewohnern hinter den adretten Gardinen. So nah beieinander wohnend, arbeitend, und dennoch so fremd, denke ich mir …

16:05

Hans und Ben von der HCU sind Tutoren des Workshops und Dauerbewohner der UdN. Wie so oft, hole ich mir auch heute von den beiden noch einmal Rat und diskutiere die Ideen für mein Tagungs-Paper. Bei einem gemeinsamen Kaffee in der offenen Gemeinschaftsküche, genau in der Mitte des Gebäudes, erklärt mir Ben, dass die UdN letztlich „Räume programmiere“. Nach einem kurzen Parforceritt durch die poststrukturalistische Raumforschung, einem Abstecher in Design- und Architekturtheorie, entspannt sich zwischen uns eine Diskussion über „Ermöglichungsarchitekturen“. Wie wirken bauliche Strukturen als Hardware des Raums mit der sozialen Software, den Menschen, zusammen? Und wie können wir als Wissenschaftler eigentlich beides beeinflussen und mitgestalten?

Hans’ gemütliches Schwäbisch bringt uns beide schließlich auf den Teppich bzw. den Estrich des Küchenbodens zurück: „Magsch’ au’ no oin’ Kaffee?“, will er wissen und hebt fragend die Kanne in meine Richtung. Ja, gern – ich entschließe mich zu einer Intervention im Raum und schiebe ihm als kleine Ermöglichungsarchitektur die leere Tasse hin.

20:05

Es ist angerichtet: Die Studentengruppe, die das UdN-Restaurant organisiert, eröffnet das Abendbuffett. Statt Presssack mit Musik gibt es heute Börek mit E-Bass: Eine türkischstämmige Frau aus der Nähe zaubert in der offenen Studioküche; mit Fusionjazz garniert eine Band von der Veddel das Menü. Bevor ich zugreife, gönne ich mir ein Feierabendbier an der improvisierten Bar aus Baugerüstteilen.

22:30

Während es in der Nachbarschaft immer leiser wird, und die Lichter langsam verlöschen, wird die Band immer lauter. Zwischen dem sozialen Programm in den Räumen hier drinnen und dem in der Nachbarschaften draußen herrscht nun wohl die maximale Distanz. „Wir programmieren Räume“, hatte Ben mir erklärt. Klang erstmal gewöhnungsbedürftig für mich als Sozialwissenschaftler. Bereits jetzt, wenige Stunden später, wirkt diese Idee tatsächlich wieder sehr abstrakt.

Wie Ben oder Hans, beeindrucken mich auch die Teilnehmer dieses Workshops mit ihrem unerschöpflichen Fundus kreativer Ideen. Die besten davon hängen heute Abend als Ausdrucke und Poster an den Wänden. Alle Räume der UdN werden heute Abend „bespielt“, höre ich stolz einen Workshopteilnehmer sagen. Häufig, scheint es mir da, ist es das Vokabular, das die gefühlte Spannweite markiert zwischen den Künstlern, Studentinnen und Studenten, die neu hier her ziehen, und den Bewohnerinnen eines Stadtteils, in dem man Migrantinnen und Migranten inzwischen als Alteingesessene bezeichnen müsste.

Wie kann man dann aber als Alteingesessener eigentlich noch Migrationshintergrund haben? frage ich, als ich bei Paul an der Bar noch eine Limo bestelle.

23:15

Jenny, die wie jeden Mittwoch den Check-In-Schalter des UdN-Restaurants managt, weiß da auch keine Antwort. Sie komme gern zu meinem Vortrag, sagt sie. Erst da bemerke ich die Plakate an den Wänden, die die Restaurantgäste zu der Diskussionsveranstaltung einladen, die ich nächste Woche mit einem Bürgerverein von der Elbinsel organisiere.

01:10

Nachdenklich knipse ich das Licht aus und rolle mich in meinen Schlafsack. Die UdN – also endlich ein Projekt, das es ernst meint mit der embedded research. Endlich Forscher, die versuchen, sich selber einzubetten in das, was vor Ort besteht und passiert. Hier liegt Potenzial, die oft fehlenden Brücken zu schlagen zu den Milieus vor Ort, die in so vielen anderen Planungsprozessen immer nur als black box oder „planungsferne Schichten“ auftauchen. Hier sollen sie endlich einmal selbst zur tragenden Säule des Gedankengebäudes werden – und seiner Ausführung. Sie waren bisher häufig die, die keine Stimme haben. Doch es bleibt eine echte Herausforderung, scheint mir, Ideen wie die UdN in die Sprache(n) der Anwohner zu übersetzen.

Das gilt letzten Endes aber auch für die Eichhörnchen und Eichelhäher im Garten. Gibt es schon Ansätze zur „Partizipation von Tieren im Städtebau?“ denke ich schmunzelnd, bevor ich einschlafe.

Foto : Vedran Skansi