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Kommt überhaupt jemand?
Der Eingang wird von Strahlern hell erleuchtet, der rote Teppich ist ausgelegt und an der eigens für das Kino erbauten Bar warten wir auf die ersten Besucher. Schon 18:55 Uhr! Um 19 Uhr soll die erste Filmvorführung mit dem Film „Wholetrain“ starten. In dem kleinen Aufenthaltsraum vor dem Kino sitzt bis dahin ein Besucher, der durch die Tatsache, dass er der einzige Gast ist, selbst etwas unsicher wirkt… Doch dann geht‘s los! Immer mehr Gäste betreten über den roten Teppich die Universität der Nachbarschaften. Zu unserem Erstaunen besteht die Besucherschaft aus verschiedensten Personengruppen. Der erste Film sollte für Jugendliche sein und wurde an Schulen beworben, doch es kommen alle Altersklassen: Jugendliche, junge Erwachsene und sogar ältere Damen, die aufgrund unserer Verteilung der Kinokarten auf dem Stübenplatz gekommen sind. Schnell füllen sich die Räumlichkeiten der UdN. Das Popcorn und zahlreiche Getränke gehen über die Bar. Die Besucher bestehen zum größten Teil Wilhelmsburgern. Unsere Euphorie wächst. Das erstrebte Ziel am Anfang unserer Arbeit, ein Kino in Wilhelmsburg für Wilhelmsburger zu entwickeln, scheint erfüllt. Stille kehrt ein. Die Besucher haben sich in den Kinosaal begeben und der Fall, den wir nicht erwartet hätten, tritt ein: Wir haben zu wenig Plätze! Hektisch und mit Hilfe der Gäste werden schnell weitere Stühle in den Saal platziert, bis jeder Quadratzentimeter gefüllt ist. Vereinzelt kommen weitere Gäste, die sich entweder noch eine Nische suchen oder ankündigen, zu der zweiten Vorführung zu kommen. Der erste Film beginnt…
Kleine Kinogeschichte Wilhelmsburg
Während der 60er Jahre gab es in Wilhelmsburg zahlreiche Kinos. Doch schon 1987 wurde das letzte Kino, das “Rialto”, geschlossen. Seitdem steht das Gebäude leer. Es ist mit den Jahren immer mehr zerfallen und gleichzeitig zu einer melancholischen Erinnerung geworden. Seit 2001 gibt es einige Initiativen, die immer wieder Filmvorführungen anbieten, aber ein festes Kino ist daraus nicht entstanden. Durch die Präsenz des Rialtos ist “Kino” ein Thema auf den Elbinseln geworden, das seither immer wieder diskutiert wird und dadurch aufzeigt, wie groß das Bedürfnis nach einem neuen Kino ist. Mit unserem Projekt haben wir dieses Thema aufgegriffen und den städtischen und gesellschaftlichen Raum “Kino” untersucht. Unser Ziel war es. herauszufinden, wie ein “Wilhelmsburger Kino” aussehen könnte, und es an einem Abend Realität werden zu lassen.
Was braucht es für ein Kino?
Zu Beginn des Projekts stand die Literatur- und Archivrecherche zum Rialto, zu rechtlichen Grundlagen und den Abläufe eines Kinos. Dabei standen die zahlreichen Regeln und „Rituale“ im Vordergrund, die die Abläufe im Kino prägen. Dies schließt sowohl die festen Veranstaltungszeiten mit ein, als auch das Popcorn oder Eis, das dort verkauft wird. Die Raumfolge und Ausstattung geben den Ablauf der Kinoveranstaltung vor und bestimmen das Verhalten der Besucher. Wie verhält man sich, wenn man zu spät kommt und zu seinem Sitzplatz durchgelassen werden muss? Wann wird gelacht? Wie laut darf man sich unterhalten oder mit dem Popcorn rascheln? Wie lange bleibt man nach dem Film sitzen? Basierend auf diesen Recherchen und Forschungsergebnissen haben wir unser Konzept entwickelt. Da wir alle selbst nicht in Wilhelmsburg wohnen, sehen wir uns nicht dazu berechtigt, einfach zu bestimmen, wie ein Wilhelmsburger Kino aussieht. Unser Ziel war es daher, geeignete Methoden zu entwickeln, mit denen wir Wilhelmsburger an dem Prozess beteligen können und ihnen die Möglichkeit geben, das Kino zu gestalten.
Vom „Minimal-Kino“ zum „Ganz großen Kino“
Aus dieser Zielsetzung heraus ist ein sehr offenes Konzept entstanden, das erst durch Interaktion seine endgültige Form bekommt. Damit überhaupt Interaktion entstehen kann, mussten wir unsere eigene Vorstellung von Kino, unsere persönliche und die Ergebnisse unserer Recherche, reflektieren. Aus der Reflexion heraus haben wir das „Minimal-Kino“ generiert. Es enthält die absolut notwendigen Elemente, die für eine Kinovorführung notwendig sind. Das Minimal-Kino wird daher vor allem durch eine Inventarliste beschrieben, in der diese Elemente festgehalten wurden und die Grundlage unserer Gespräche mit Wilhelmsburgern darstellte. Durch das Bild des Minimal-Kinos und der Inventarliste war es möglich, unsere konkrete Vorstellung von Kino in den Gesprächen zur Diskussion zu stellen. In der Diskussion über das Minimal-Kino werden die Vorstellung unseres Gegenübers deutlich, und gemeinsam wird das Minimal-Kino verändert und mit Ideen angereichert. Es wird also zunehmend transformiert, bis schließlich ein Wilhelmsburger Kino entsteht. Darüber hinaus diente die Inventarliste als Grundlage, um nach konkreter Unterstützung zu fragen und um einzelne Möbel oder Ausstattungsgegenstände auszuleihen. Durch die Diskussion, aber auch durch die Objekte wird das Minimal- zum Wilhelmsburger Maximal-Kino, dem„Ganz großen Kino“. Die Beteiligung an diesem Prozess konnte demnach ganz verschieden aussehen. Zum einen durch das Einbringen von Ideen, Vorschlägen und Kritik an der Planung des Kinos, zum anderen durch geliehene, getauschte oder geschenkte Ausstattungsgegenstände. Dafür mussten wir unser Vorhaben und unseren Arbeitsprozess transparent machen, indem wir Gespräche gesucht haben, aber auch durch Plakate und kleine open-air Kino-Veranstaltungen.
Gleichzeitig ist das Kino ein Angebot der UdN an die Nachbarschaft, sich in diesen Kontext mit den bestehenden Strukturen einzubringen. Gerade weil die UdN ein Low-Budget-Projekt ist, ist sie immer wieder auf diese angewiesen. Dafür, dass die Anwohner die UdN unterstützen, wird Ihnen ein kostenloser Kinoabend gegeben.
In diesem Prozess wurde aus dem offenen Konzept eine konkrete Planung für das „Ganz große Kino“. An einem Samstagabend sollten in der UdN drei verschiedene Filmformate angeboten werden, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten. Zu Beginn sollte der Jugendfilm „whole train“ gezeigt werden. Der Hauptfilm „Cinema Paradiso“ nimmt das Thema „Kino“ wieder auf. Zum Abschluss gab es einen Mitternachtsfilm. Hier wurde als Überraschungsfilm „Cry Baby“, ein Musical mit Johnny Depp gezeigt. Die gesamte Veranstaltung war kostenlos, Popcorn und Getränke wurden gegen eine freiwillige Spende ausgeschenkt. Darüber hinaus waren „Kommunikationsräume“ wie der Außenbereich, die Bar, an der auch ein Gästebuch auslag, und die Lounge entscheidend, um das Program des Abends, das Konzept oder die UdN zu erklären. Auch diese Gesprächen haben den Ablauf des Abends geprägt und verändert, sodass das Disko-Kino entstand, oder die Stürmung des Kinos durch IBA-Gegner verhindert werden konnte.
Party im Kinosaal!
Der Kinosaal ist voll und nach einer kleinen Rede unsererseits verfolgen die Besucher gespannt der ersten Filmvorführung. Ca. 150 Gäste füllen das Kino und vereinzelt kommen weitere Gäste, die sich verspätet hatten oder schon auf die zweite Darstellung warten. Unser Kino Team kann sich zu dieser Zeit ein bisschen ausruhen, die Bar aufräumen und selbst den Film genießen. Zwei von uns gehen nochmal los, um weitere Eintrittskarten zu verteilen und Leute aus dem Stadtteil anzusprechen.
Der Abspann läuft. Die Besucher erheben sich langsam von Ihren Plätzen und treten in den Vorsaal in Richtung Bar oder zum Rauchen vor die Tür. In der Zeit nutzen wir die Gelegenheit und räumen die zusätzlichen Stühle wieder zusammen. Die Räumlichkeiten werden leerer. Viele versammeln sich bei dem noch schönem Wetter draußen und diskutieren mit uns und untereinander über Film, Kino und Wilhelmsburg. Nur ein paar junge Männer bulgarischer Herkunft verweilen im Kinosaal und sprechen uns stolz an, selbst auch einen Film gemacht zu haben. Wir werden hellhörig und neugierig und erlauben, die mitgebrachte CD in unseren Player zu legen. Das Unerwartete nimmt seinen Lauf und unser Kino verwandelt sich in einen Tanzsaal mit Popmusik und Videos von leichtbekleideten jungen Frauen. Auch die Gäste vor dem Kinosaal hören das Spektakel, und der ein oder anderen tanzt mit. Den jungen Männern ist eine Bühne zur Selbstdarstellung eröffnet worden.
Die Party nimmt mit der Ankündigung des Ganz Großen Kinos jedoch ein Ende. Der zweite Film „Cinema Paradiso“ soll gezeigt werden. Viele Jugendliche sind nach dem ersten Film gegangen und der Saal reicht für die gebliebenen Besucher aus. Und doch war jeder Platz besetzt. Nach einer weiteren kurzen Ansprache und Danksagung startete der Film über das Kino, die Stimmen verstummten und an der Bar kehrt wieder Ruhe ein. Die Angst, solch einen langen Film zu zeigen, legte sich schnell. Für einige Besucher, darunter die jungen Männer des Disko-Kinos, ist Cinema Paradiso wohl nicht der favorisierte Kinofilm, aber auch sie halten bis zum Schluss durch. Einige junge Männer sitzen während des Films in der Lounge und unterhalten sich lautstark, werden aber nach mehrmaligen Auffordern ruhiger. Die Filmwahl ist trotzdem ein voller Erfolg. Viele kannten den Film bereits und freuen sich, ihn in einer neuen und ungewohnten Atmosphäre erneut anschauen zu können….
Der Prozess der Konzeptfindung und die Planung des „Ganz großen Kinos“ hat mehrere Monate in Anspruch genommen. Während dieser Zeit standen wir in Kontakt mit verschiedenen Wilhelmsburger Initiativen, wie den Insellichtspielen, Matthias Lindl von der Soulkitchen Halle, der Honigfabrik und dem Haus der Jugend. Doch um diese Kontakte überhaupt herstellen zu können, mussten wir uns mit den bestehenden Konflikten einiger Intiativen mit der IBA und den persönlichen Konflikten bisheriger Kino-Akteure untereinander auseinander setzen. Doch gerade diese Kontakte und die Auseinandersetzung mit den Konflikten vor Ort war entscheidend für uns und unser Konzept, um beispielsweise die Transparenz unserer Arbeit zu erhöhen und die Position der UdN in Wilhelmsburg zu definieren. Allen Problemen zum Trotz und durch die gemeinsame Begeisterung für das Kino haben am Ende alle mitgeholfen und das „Ganz große Kino“ unterstützt.
Vorbereitungen für das „Ganz große Kino“
Der Veranstaltung selbst gingen allerdings drei intensive Arbeitswochen voraus. Dafür musste der Termin für die Vorstellung kurzfristig verschoben werden, da die Vorbereitungen sonst gar nicht umsetzbar gewesen wären. Zweieinhalb Wochen vor Aufführung wurden Plakate mit Filmzitaten und der Aufschrift „Ganz großes Kino“ von Hand gedruckt – weiße A3- Blätter mit roten Streifen und einer schwarzen Schablonenschrift – und im Stadtteil aufgehängt. In einer zweiten Phase, ein paar Tage vor der Veranstaltung, wurden Plakate mit der konkreten Filmankündigungen aufgehängt. Das „handmade“-Layout der Plakate und der damit einhergehende Arbeitsaufwand überzeugte auch spätere Kooperationspartner von dem Projekt. Darüber hinaus verfassten wir Pressemitteilungen für die lokalen Zeitungen und verteilten auf Schulhöfen, in der unmittelbaren Nachbarschaft und auf dem Stübenplatz selbst entworfene Eintrittskarten. Unsrere Kooperationspartner informierten zusätzlich über ihre Mailverteiler zahlreiche Wilhelmsburger. Nur an der HCU schickten wir bewusst erst am Veranstaltungstag selbst eine Rundmail. Das „Ganz große Kino“ sollte vor allem eine Veranstaltung für Anwohner sein. In diesen letzten Wochen vor der Aufführung veranstalteten wir nachts immer wieder kleine Open Air-Vorführungen. Wir bauten die Technik auf, stellen Sofas in den Rothenhäuser Park und schauten Filme. Doch der März ist noch zu kalt und so hatten wir mit diesen Aktionen wenig Erfolg.
Die Filmauswahl für den Abend stellte sich als die größte Herausforderung heraus. Obwohl es viele Filme zum Thema „Film“ gibt, beschäftigen sich nur sehr wenige mit dem Kino an sich. In den vergangenen Jahren hatten die Insellichtspiele e.V. bei ihren Freilicht-Veranstaltungen bereits zwei der in Frage kommenden Filme gezeigt und verringerten so die Auswahl drastisch. Jeder potenzielle Film wurde von uns geschaut und gemeinsam bewertet. Durch zahlreiche Gespräche erhielten wir Anregungen, bis wir uns entschieden hatten. Danach mussten die Besucherzahlen kalkuliert werden. Wie richten wir den Kinosaal innerhalb der UdN ein? Wie viel Platz brauchen wir? Getränke und Popcorn mußten eingekauft werden, die Ausstattung (Vorhänge, um den Kinosaal abzutrennen, Stühle, Teppiche, technische Ausrüstung, Filmplakate als Dekoration…) wurde von verschiedenen Seiten ausgeliehen, organisiert, transportiert und aufgebaut. Die Bar wurde aus Europaletten von uns selbst hergestellt, und die Popkorntüten von Hand bedruckt. Für den Aufbau blieb und nur ein kleines Zeitfenster, da zeitgleich in der UdN ein Baupraktikum stattfand. In kürzester Zeit mussten die Räume der UdN umgestaltet werden, die Bar wurde selbst betrieben. Während des Abends gab es immer wieder viel zu tun. Aber nach und nach fällt die Anspannung ab, als sich zahlreiche Zuschauer einfinden und sich spannende Gespräche entwickeln.
Die nächsten Tage sind wir dann mit dem Abbau und dem Zurückbringen der geliehenen Sachen beschäftigt. Mit allen Kooperationspartnern treffen wir uns noch einmal, um uns zu bedanken und über den Abend zu reden. Danach steht für uns noch die Dokumentation und Reflexion des ganzen Prozesses an. Auch das wird noch mal einige Monate in Anspruch nehmen.
Konflikte, Musik und Wein
Während des zweiten Films erscheinen unerwartete Gäste. Gegner der IBA wollen die ganze Veranstaltung stürmen und zu Fall bringen. Jedoch bemerken Sie, nach einigen Gesprächen mit uns und Matze, dem Bewohner eines Bauwagens auf dem Gelände der UdN, schnell, dass hier anscheinend nach Ihren Vorstellungen keine „traditionelle IBA-Veranstaltung“ abläuft. Sie ziehen sich wieder zurück und hängen noch ein Banner auf, auf dem steht: „IBA & IGS abkotzen“.
Jetzt haben wir auch endlich entschieden, welchen Film wir als „Mitternachtskino“ zeigen. Auf „Cry Baby“, ein Musical Film mit Johnny Depp, ist unsere Wahl gefallen. Eine Stunde vorher! Diesen kündigen wir nach Cinema Paradiso an, mit der Ansage, dass die weitere Vorstellung in lockerer Atmosphäre, bei Gesprächen und Getränken gezeigt werden soll. Diese hielten bis zum Morgengrauen an. Einige Besucher ließen Johnny Depp im Kinosaal auf sich wirken, andere feierten an der Bar und weitere standen draußen und unterhielten sich angeregt über die Veranstaltung.
Einige wenige Besucher, darunter auch Matthias Lintl, trinken noch ihr letztes Bier und gemeinsam wird die UdN geschlossen, die Lichter gehen aus. Zu unserem Erstaunen ist der erste Gast, der alleine in der Lounge saß und sich nur den ersten Film schauen wollte, am Schluss immer noch da, und der letzte der mit uns zusammen das „Ganz große Kino“ verlässt.
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